Flucht 2014 aus dem Irak nach Deutschland
„Diesen Gegenstand nennt man Berat, den muss jede jesidische Familie bei sich zu Hause hängen haben. Man darf ihn auch nicht irgendwo hinterlassen. Wenn man auf der Flucht vor Krieg ist, muss man versuchen, diesen Gegenstand an seinen neuen Ort mitzunehmen, egal, wo man auf der Welt dann wohnt.“
Ich bin mit meiner Familie 2014, als der Islamische Staat unsere Region eingenommen hat, aus dem Irak geflohen. Es wurden Tausende, wenn nicht Hunderttausende Menschen umgebracht. Sie haben auch meine zwei Onkel getötet. Das habe ich alles miterlebt, meine Familie auch. Tausende jesidischer Mädchen wurden an Männer verkauft. Bis heute gibt es noch mehr als 3.000 Mädchen, die in ihren Händen sind und versklavt wurden. Man muss sich das vorstellen: Ein Mädchen wird für 100,- Dollar verkauft!
Als der Krieg angefangen hat, als unsere Heimat vom IS eingenommen wurde, fühlte ich natürlich Enttäuschung, Trauer, auch Wut. Wir sind ungewollt aus unserer Heimat geflohen und mussten vieles zurücklassen – unser ganzes Vermögen war von einem auf den anderen Tag verloren.
Unsere Flucht war sehr schwierig, meine Familie und ich haben acht Monate in Zeltlagern in der Türkei verbracht. In den Zeltlagern lebten wir mit elf Personen auf vier Quadratmetern. Das Herausforderndste war, dass ich mich um die ganze Familie kümmern musste, vor allem um meine gehbehinderte Tochter und meine Mutter in ihren Rollstühlen.
Ich hatte alle meine Kinder dabei, die zu der Zeit noch klein waren. Wir mussten zwischendurch mehrere Kilometer zu Fuß zurücklegen oder die Rollstühle in die Züge und in die Autos hineinbekommen. Mehrere Male ist meine Mutter aus dem Rollstuhl herausgefallen und hat sich Verletzungen zugezogen.
Ich wusste von Freunden, dass die Strecke von der Türkei nach Griechenland über das Meer sehr gefährlich wird. Es war für mich eine riesengroße Erleichterung, als wir es schließlich überquert hatten. Das war der Moment, als wir wussten, dass wir jetzt in Sicherheit sind.
Fluchtgegenstand: Das Berat
Ein „Berat“ muss jede jesidische Familie bei sich zu Hause hängen haben. Man darf es nicht irgendwo hinterlassen. Wenn man auf der Flucht vor Krieg ist, muss man versuchen, es an seinen neuen Ort mitzunehmen, egal, wo man auf der Welt dann wohnt. Das Berat hat eine wertvolle Bedeutung: Man darf in der Familie nicht lügen, man darf nicht untreu sein, man muss „ein gerader Mensch sein“, wie wir sagen.
Wir Jesiden glauben sehr stark an das Berat. Es hat mir und meiner Familie ein Stück Geborgenheit geschenkt – wir haben uns auf der Flucht sicherer gefühlt, und wir haben ein Stück Heimat mit dabei gehabt. Es hat uns auch Hoffnung gegeben, weil unsere Gebete damit in Verbindung stehen. Es ist das höchste Symbol im Jesidentum – es zeigt jedem, dass wir eine jesidische Familie sind, weil es sichtbar aufgehängt wird.
Das Berat besteht aus heiligem Wasser aus der Grabstätte in Lalisch, aus der Erde und aus dem Salz dieses Ortes – aus diesen drei Bestandteilen wird es hergestellt. Diese Kugel hält jahrelang.
„Das Größte, was ich erlebt habe, ist, dass ich hier Mensch sein darf.“
Heimat bedeutet für mich sehr viel – es ist der Ort, an dem ich mit meinen Eltern aufgewachsen bin und wo meine Kinder geboren worden sind. Leider weiß ich, dass diese Heimat nicht mehr existiert, wie es einmal war. Diese Heimat, wie sie früher war, diese Geborgenheit, gibt es einfach nicht mehr. Es ist dort fast alles zerstört und somit kein Ort mehr, an den ich zurückkehren möchte. Es gibt dort keine Zukunft mehr. Der einzige Ort, den ich gerne noch einmal besuchen möchte, ist unsere Grabstätte in Lalisch.
Ich lebe jetzt seit mehr als fünf Jahren in Deutschland. Das Größte, was ich erlebt habe, ist, dass ich hier Mensch sein darf. Es gibt Menschenrechte, man kann seine Meinung sagen, man hat das Recht auf Bildung, meine Kinder haben hier eine Zukunft. Alle Menschen werden gleichbehandelt, alle Religionen werden an einen Tisch gebracht.
Das Wichtigste, was man braucht, um eine Zukunft zu finden – egal, in welchem europäischen Land: dass man von vornherein versucht, sich ein Stück weit anzupassen, dass man versucht, die Sprache zu lernen. Man kann seine Religion in seinen eigenen vier Wänden ausleben, aber man muss nach außen hin auch ein Stück Respekt, ein Stück Dank zeigen.
Ich mache mir Sorgen um die Menschen, die noch in der Heimat in diesen Zeltlagern geblieben sind, denen es nicht so gut geht. Und ich wünsche mir einfach, dass sie irgendwann auch Frieden finden und Hilfe bekommen.