Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren!
Gestern am 30. September war der Internationale Tag des Flüchtlings. An diesem Tag denken wir an alle, die ihre Heimat verlassen mussten. Weltweit befinden sich in diesem Moment über 100 Millionen Menschen auf der Flucht, vor Krieg, Hunger, Verfolgung und Klimakatastrophen. Es sind so viele wie noch nie. Und auch am gestrigen Tage haben wir mit all denen, die wir interviewt haben und die hier ihre Geschichte mit uns teilen, eine kleine interne Ausstellungseröffnung gefeiert und uns auf Augenhöhe miteinander damit beschäftigt, was es bedeutet, die Heimat verlassen zu müssen.
Als wir mit der Planung für diese Ausstellung vor 2 Jahren begannen, konnte von uns keiner ahnen, dass Anfang diesen Jahres in unmittelbarer Nähe ein Krieg ausbrechen würde. Durch die aktuelle Flucht von so vielen Menschen aus der Ukraine in unser Land hat das Projekt eine erschreckende Aktualität erhalten.
Die Schicksale aller von uns interviewten Frauen und Männer erschienen uns plötzlich sehr viel näher, da die Möglichkeit eines erneuten Krieges, vielleicht auch in unserem Land, präsenter war. Wir gingen aus der Sicherheit der Beobachterin des Beobachters, in eine persönliche Betroffenheit.
Schnell waren die Geschichten unserer Vorfahren und Familien, unserer Freundinnen und Freunde, unserer Nachbarn, wieder spürbar in unseren Herzen.
Das FamilienZentrum in unserer Stadt begleitet und unterstützt viele Menschen, auch geflüchtete Frauen und Männer und Kinder aus vielen Ländern dieser Erde. Immer wieder taucht auch hier die Frage auf, was nehmen Menschen mit, was packen sie ein, wenn sie ihre Heimat verlassen müssen? Folgen wir als Menschen rein pragmatischen oder emotionalen Impulsen? Was muss unbedingt mit und darf nicht dort gelassen werden? Der Gegenstand steht für Verlust und für einen Teil der alten Heimat. Er ist ein Übergangssymbol, als Brücke zwischen der alten und der neuen Heimat.
In vielen Familien gibt es solche Gegenstände, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Sie erinnern an Abschied, Verlaust, Tod und Trauer, erzählen aber auch von Neubeginn, haltenden Familiensystemen und Hoffnung in einer neuen Heimat.
Diese Geschichten gehören zu den Familien, genauso wie all die anderen Erinnerungen.
Und diese Gegenstände sind Manifestationen von Geschichte. Und diese wird erst durch die Erinnerung lebendig.
Auch in meiner Familie gibt es einen solchen Gegenstand. Es ist eine Kinderrassel, aus dem Jahre 1944. Schon seit ich mich erinnern kann, übte diese Rassel eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Viele Fragen, auch sehr emotionale, beschäftigen mich bis heute mit diesem Schicksal dieser Rassel. Es ist die Geschichte eines Teils meiner Familie und gehört zu mir und uns.
In sehr bewegenden Interviews nähert sich die Ausstellung den Menschen im FamilienZentrum und auch innerhalb unserer Stadtmauer mit genau dieser Fragestellung. Damit gibt sie den berührenden Geschichten von 19 Frauen und Männern einen Rahmen. Wir hören von Bedrohung, Tod, Verlust und großer Angst. Von endgültigen Abschieden. Aber auch von Mut, Hoffnung und Unterstützung.
Die Ausstellung möchte die Erinnerungen dieser Menschen sichtbar machen. Und sensibilisieren für unseren Nächsten. Und zeigen, dass fast jeder von uns solch eine Geschichte, solch einen Gegenstand in seiner Familie hat: In Hessen hat derzeit jeder Dritte einen Migrationshintergrund. Unser Land ist ein Einwandererland. Die Ausstellung zeigt einmal mehr, welche Verzweiflung und Angst Krieg, Flucht und Vertreibung auslösen. Es ist existentiell, für unsere demokratischen Werte einzustehen und Menschen, die zu uns fliehen, zu unterstützen, damit sie in unserer Heimat ankommen und vielleicht eine zweite Heimat finden können.
Auch unsere Stadt ist von Einwanderung geprägt. Wussten Sie, dass z.B. in den Jahren 1945 bis 1947 in 7 Flüchtlingstransporten insgesamt 2345 Frauen und Kinder, Seniorinnen und Senioren zu uns in die Stadt kamen? Sie wurden in der Kernstadt, und auch sehr viele in den Dörfern untergebracht, Das war für Aufnehmende, wie für die, ihre Heimat verloren hatten eine sehr schwierige Zeit. Die Älteren unter ihnen, wissen noch, wie das damals war; wie es sich anfühlte, auf der einen, wie auch auf der anderen Seite. Und wenn es gut ging, fand sich ein offenes Herz, ein guter Geist und genug zu essen, wenn nicht, konnte es sehr schwer werden. Und jetzt finden sich freiwillig Familien, die insgesamt 77 Frauen, Kinder und auch Männer aus der Ukraine bei sich aufnehmen, ohne zu wissen, ob sie jemals eine Entschädigung dafür bekommen, Aus Herzensgüte!!!. Auch sprechen wir hier an diesem Ort von den rund 2,8 Millionen Menschen, die nach der Gründung der DDR 1949 bis zum Mauerbau 1961 in die Bundesrepublik Deutschland geflohen sind.. Nach dem Bau der Mauer war die sogenannte Republikflucht nur noch unter großen Gefahren möglich. Zigtausende nahmen das Risiko bis zum Mauerfall 1989 dennoch auf sich. Mehrere Hundert ließen dabei ihr Leben. Einige derer, denen die Flucht gelungen ist, haben hier ihre Geschichte erzählt. Denken wir auch die Zwangsevakuierungen aus dem Eichsfeld in den Jahren 1952 und 1954. Aktion Kornblume und Ungeziefer wurde diese Deportationen genannt- Sie sind vielen von uns noch ein Mahnmal an die Konsequenzen, die ein Krieg mit sich bringt. Viel Leid ist damit über unzählige Menschen gekommen. Es waren unsere Nachbarn und auch Familienmitglieder. Auch 2015 und 2016 sind über 100 Menschen zu uns in die Stadt geflohen, Sie kamen aus Eritrea, Afghanistan, der Türkei, dem Irak, aus Syrien. Diese sehr mutigen Menschen kannten noch nicht einmal die Sprache des Landes, in das sie geflohen sind und sind jetzt ein Teil, auch vielfältig sehr engagiert, in unserer Gemeinschaft hier in BSA. Sicherlich kann diese Liste im Rückwärtigen Blick weitergeschrieben werden.
Daher: vergessen wir nicht, was Menschlichkeit bedeutet. Und in diesen besonderen, sehr unsicheren Zeiten ist es gut, wenn wir miteinander gehen, und absehen von kleineren und vielleicht auch größeren Konflikten und einander annehmen und helfen. Denn schnell kann sich Vieles ändern, aber in unseren Herzen sollten wir stark sein und miteinander teilen, was wir haben.
Wir hoffen sehr, mit dieser kleinen Ausstellung einen Beitrag dazu leisten zu dürfen, mit dem Menschen neben uns auf Augenhöhe zu kommen und verstehen zu wollen, wer dieser Mensch ist.
Denn nur durch den Dialog mit einem Anderen offenbart sich dessen Wesen und auch wir können letztendlich verstehen, wer wir wirklich sind und uns annehmen. Und das ist wirkliche Arbeit am Frieden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
Annette Ruske-Wolf, Dipl.Päd.Univ.
Einrichtungsleitung FamilienZentrum BSA e.V.