Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Freundinnen und Unterstützer des Familienzentrums,
seit dem 24. Februar ist unsere Welt eine andere. Als zum ersten Mal die Sirenen über Kyiv dröhnten, Granaten in Schulen und Wohngebäude einschlugen und die vorrückende russische Armee Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer dazu zwang, ihre Heimat zu verlassen, wurde uns abermals bewusst, wie kostbar Frieden, Freiheit und Sicherheit für unser tägliches Zusammenleben sind. Von einem auf den anderen Tag brachte Russland unsägliches Leid über die Ukraine, riss Familien auseinander und ließ eine Gesellschaft, die im Frieden eingeschlafen war, in einem Krieg aufwachen.
Es sind diese Schicksale, die uns berühren, wütend und traurig zugleich machen und die uns mit Blick auf die Fluchtbewegungen der letzten Jahre doch so vertraut vorkommen.
Wir leben in einer Welt, in der sich zu Beginn dieses Jahres mindestens 90 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Terror befunden haben. Wir leben in einer Welt, in der grausame Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zum Alltag für so Viele gehören. Und wir leben in einer Welt, in der Menschen immer noch tagtäglich unterdrückt und verfolgt werden – aufgrund ihrer politischen Überzeugung, ihrer Herkunft, Religion oder sexuellen Identität. Mit ihrer Flucht suchen sie Schutz und ein Leben in Freiheit und Sicherheit – viele auch bei uns hier in Nordhessen.
Gerade deshalb bin ich dankbar, dass es mit dem Familienzentrum eine Institution in unserer Region gibt, die seit vielen Jahren mit Kompetenz und mindestens genauso viel Herzblut ein breites Programm zur Unterstützung von Geflüchteten anbietet. Als in den vergangenen Monaten besonders viele Menschen aus der Ukraine, vor allem Frauen mit Kindern, auch nach Bad Sooden-Allendorf kamen, hat sich unter Beweis gestellt, wie wertvoll das gute Zusammenspiel aus haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern zur Unterstützung der Geflüchteten ist.
Doch Flucht ist kein Thema, das uns nur heute beschäftigt. Der Zwang oder die pure Notwendigkeit, Vertrautes, Familie und Heimat hinter sich zu lassen und in ein neues Land aufzubrechen, prägt unsere Gesellschaften seit jeher. Flucht bedeutet Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Und so freue ich mich, dass wir heute mit der Eröffnung der Ausstellung „Fluchtgegenstände“ einen sehr persönlichen Einblick in die Fluchtgeschichte von 19 Menschen gewinnen können, die seit 1945 bis in die heutige Zeit geflohen sind.
„Auf einmal heißt es, alles stehen und liegen zu lassen, um nachts mit einem Koffer voll zu fliehen.“ Mit diesen Worten beginnt das Gedicht eines anonymen Autors, das auch hier im Grenzmuseum Schifflersgrund zu lesen ist. Der Verfasser war vermutlich zu Zeiten des geteilten Deutschlands auf der Flucht vor politischer Verfolgung und Repression. Mit „nichts als einem Koffer voll“ machte er sich auf den Weg in die Ungewissheit eines neuen Lebens.
Ob vor Krieg und Gewalt in der Ukraine, dem diktatorischen System der DDR oder aus Angst vor Verfolgung und Zwangsarbeit in Schlesien – überall wurden und werden Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Auch wenn wir, die nicht von diesem Schicksal betroffen sind, uns an manchen Tagen machtlos fühlen und frustriert sind angesichts des Leids und der vielen Krisen und Bedrohungen auf der Welt, so können wir doch unser Möglichstes versuchen, um eben den Menschen, die sich unfreiwillig auf der Flucht befinden, eine neue Heimat zu bieten.
So möchte ich mit den Worten des genannten Autors schließen und jede und jeden dazu ermutigen, alle Menschen, die mit „nichts als einem Koffer“ vor unserer Tür stehen, herzlich, offen und hilfsbereit zu empfangen. Denn, so heißt es weiter: „Kein Zuhause haben, wisst ihr, was das heißt?!“ Versuchen wir deshalb, ihnen allen, die zu uns kommen, ein neues Zuhause bei uns zu geben.
Ich bedanke mich herzlich beim Familienzentrum Bad Sooden-Allendorf sowie der Gedenkstätte Schifflersgrund für diese gelungene Ausstellung und wünsche Ihnen viel Freude beim Besuch.
Ihr
Michael Roth
Mitglied des Deutschen Bundestages
Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses
Bad Sooden-Allendorf, Oktober 2022
Foto: medio.tv/schauderna