Gegenstand: Das Familienbuch

Flucht 1988 aus der Türkei nach Deutschland

„Das Schwierigste an der Flucht war, dass wir unsere Eltern und Familie zurücklassen mussten. Es war für mich sehr herausfordernd, mit einem kleinen Baby auf dem Arm zu fliehen, weil ich nicht wusste, wohin wir kommen oder ob wir es überhaupt nach Deutschland schaffen. Wie würde die Reise verlaufen?“

Ich heiße Surhan Atalay und bin 1988 mit meinem Ehemann und meiner sechs Monate alten Tochter nach Deutschland geflohen, weil wir als Kurden verfolgt wurden. Die Türken haben uns in ihrem Land nicht akzeptiert, deswegen lebten wir dort in ständiger Angst, umgebracht zu werden. Männer wurden verhaftet, wir Frauen wurden bedroht. Wir hatten Angst um unsere Kinder, um unsere Zukunft, wir durften unsere Sprache nicht sprechen. Uns wurden viele Sachen verboten, und wir hatten zu der Zeit kaum Rechte.

Ich kann mich an eine Nacht erinnern, als der Ehemann meiner Verwandten einfach zu Hause geholt und umgebracht wurde. Man hat nicht alle Körperteile wiedergefunden. Das sind Geschichten, die einen ein Leben lang begleiten werden, mich auch. Deswegen war die Angst groß, dass es meinem Mann auch passieren würde, dass sie meinen Mann einfach umbringen, obwohl es keinen richtigen Grund dafür gab.

Das Schwierigste an der Flucht war, dass wir unsere Eltern und Familie zurücklassen mussten. Es war für mich sehr herausfordernd, mit einem kleinen Baby auf dem Arm zu fliehen, weil ich nicht wusste, wohin wir kommen oder ob wir es überhaupt nach Deutschland schaffen. Wie würde die Reise verlaufen? Ich war damals noch sehr jung – 19 Jahre alt – und hatte noch keine Erfahrungen, hatte noch nicht viel von der Welt gesehen.

Wir haben bei vielen Menschen in unserer Umgebung nachgefragt – man hat uns gesagt, dass es in Deutschland am sichersten für uns sei.

Surhan Atalay
Personalausweis

Dort können wir unsere Religion ausleben und unsere Sprache sprechen. Man hat hier Rechte. Wir haben uns erhofft, in Deutschland eine bessere Zukunft zu haben. Das ist unser Familienbuch, unsere Registrierung in der Türkei. Wir sind froh gewesen, dass wir uns trotz der Verfolgung und der Nichtanerkennung dort registrieren lassen durften. Das war sehr wichtig für uns, denn damit konnten wir über die Grenzen gelangen und ein neues Leben, eine Zukunft aufbauen. Es gab viele Menschen dort, die nicht das Recht erhielten, sich registrieren zu lassen. Das Familienbuch war sehr wichtig zur damaligen Zeit, und noch heute behandeln wir es als sehr wertvolles Stück.

„Das Familienbuch ist ein Türöffner für eine neue Zukunft.“

Ich habe das Buch vor einer Weile übersetzen lassen, weil meine Kinder es für die Staatsbürgerschaft und die Einbürgerung gebraucht haben. Es ist also auch heute wichtig, um den Kindern eine Zukunft zu bieten, denn sie sind jetzt damit deutsche Staatsbürger. Damit haben sie auch viel mehr Rechte: Sie sind hier zur Schule gegangen, haben hier ihre Ausbildung gemacht und können wählen gehen. Das Familienbuch ist ein Türöffner für eine neue Zukunft.

Hier in Deutschland braucht man keine Angst zu haben, man kann hier seine eigene Religion ausüben. Man kann das sein, was man eigentlich ist, und das Leben leben, wie man es eigentlich möchte. Trotzdem bleibt der Umstand, dass ich meine Familie verlassen musste. Das ist das Schwierige, was mich immer noch begleitet, trotz allem hier. Auch, wenn ich mich geborgen und sicher fühle, vermisse ich mein Zuhause, weil es einfach ein wichtiger Teil meines Lebens war.

Wenn ich im Fernsehen Filme über die Heimat sehe, muss ich oft weinen, weil ich mich an die alten Zeiten erinnere, weil wir vielleicht doch noch eine Zeitlang hätten dableiben können. An Geld hat es uns nicht gefehlt, aber es war einfach die große Angst, die uns dazu gebracht hat zu fliehen. Wenn ich diese Szenen sehe, kommt alles wieder hoch. Ich bin dann ein Stück hilflos, das begleitet mich immer noch. Ich kann nicht viel dagegen tun.

Ich habe bei meinem ersten Besuch in der Türkei nach 18 Jahren immer noch Angst gehabt, dass meinen Kindern etwas passieren könnte, daher habe ich sie hiergelassen. Mein Vater – ihr Opa –wollte sie gerne sehen, aber ich hatte Angst, dass wir vielleicht verhaftet werden könnten und dass die Kinder dann dort bleiben müssten. Die Angst bleibt bis heute und begleitet mich.

Vor acht Jahren bin ich nach BSA gezogen. Wir fühlen uns sehr wohl hier. Die Projekte sind für uns eine gute Sache, die uns ablenkt. Wenn ich in den Gemeinschaftsgarten des FamilienZentrums gehe, erinnere ich mich an meine Heimat. Und die Natur hier im Ort gefällt mir sehr gut. Ich als Frau komme auch mal von zu Hause raus, ich bin beim Mütterfrühstück dabei, bei den einzelnen Festen. Die Menschen respektieren uns hier sehr.