Flucht 2015 aus dem Irak » Syrien » Türkei » Griechenland » Serbien » Nordmazedonien » Österreich » Deutschland

„Ich habe nicht daran geglaubt, dass meine Kinder und ich an einem sicheren Ort lebend ankommen würden – nur Gott konnte es wissen. Wir haben eigentlich damit gerechnet, dass wir irgendwann unterwegs sterben müssen, wie so viele andere Menschen während der Flucht.“

Mein Mann war Beamter, also als Soldat mit einem hohen Posten angestellt. Man wollte ihn umbringen. Er wurde verfolgt und täglich bedroht, und man hat auch meinen Sohn festgenommen. Jeden Tag haben sie uns aufgesucht und versucht, den Kindern und meinem Mann etwas anzutun. Eines Abends erhielten meine Kinder und ich einen Drohbrief, in dem stand, dass wir das Haus noch am selben Abend verlassen müssten.

In derselben Nacht kam jemand ins Haus und rief den Namen meines Mannes. In dem Moment war aber nur dessen Bruder da, der ihm sehr ähnlich sah. Man hat ihm nicht die Gelegenheit gegeben, dass er überhaupt aussprechen kann, dass er es nicht ist. Er wollte einfach sagen: „Ich bin nicht die Person, für die ihr mich haltet.“ Sie haben ihn vor meinen Augen umgebracht.

Ich bin dann von der einen auf die andere Stunde mit meinen drei Söhnen – ein, zwölf und 14 Jahre alt – aus dem Haus geflohen. Wir sind in Abschnitten entlang der Wälder aus dem Irak in Richtung Syrien gelaufen. Nach stundenlangem Marsch sind wir irgendwann in der Frühe in Syrien angekommen. Ich habe nur das Notwendigste mitgenommen, fast nur die Kleidung, die wir anhatten. Ein anderer Bruder meines Mannes hatte mir noch das Gebetbuch mitgegeben – als Segen für die Flucht, dass es uns die Flucht erleichtere, dass ich an einem sicheren Ort mit meinen Kindern ankommen solle.

Zena Abo Essen
Gebetbuch, Gebets-Perlenkette

In Syrien sind wir dann auch noch mal zwei Tage durch verschiedene Orte gelaufen. Ich hatte ständig Angst, dass uns jemand verfolgt – der Name meiner Kinder war bekannt, und es stand zu befürchten, dass uns der IS unterwegs inhaftiert und mir die Kinder wegnimmt.

Nach vier Tagen Flucht sind wir dann an einem sicheren Ort in Syrien angekommen, dort gab es noch einige andere Familien aus unserem Heimatort, die mit uns geflohen sind. Mit einem Schleuser sind wir dann nachts zu Fuß über die Berge in die Türkei geflohen. Tagsüber haben wir unter Bäumen pausiert, in der Nacht sind wir weitergelaufen, bis wir irgendwann angekommen sind. Von dort aus mussten wir einen anderen Schleuser finden, der uns dann weiterschicken konnte.

Aus der Türkei sind wir dann mit Hunderten von Menschen mit Booten nach Griechenland übergesetzt. Wir waren manchmal fast 70 Personen in einem Boot, in das nur etwa 30 Personen hineingepasst haben. Die Wellen waren so stark, dass das Boot umgekippt ist und wir alle ins Meer fielen. Zum Glück hatten wir Schutzwesten an, die uns das Leben gerettet haben. Ich hatte nur meinen kleinsten Sohn bei mir – ich habe die Weste um ihn gewickelt, dass wir beide überleben können. Von den anderen beiden Söhnen wusste ich bis zum nächsten Morgen nicht, ob sie noch mit an Bord oder ertrunken sind. Ich habe nur meinen mittleren Sohn immer meinen Namen schreien hören. Viele Menschen sind auf der Flucht im Wasser umgekommen. Das waren die schwierigsten Szenen, die ich miterleben musste – neben der Tatsache, dass ich gar nicht wusste, ob meine Kinder eigentlich noch leben.

An der griechischen Grenze angekommen, wurden wir direkt wieder in die Türkei zurückgeschickt. Sie haben uns da nicht aufgenommen, weil wahrscheinlich zu viele Menschen Zuflucht gesucht haben. An der türkischen Grenze haben wir einen neuen Schleuser gefunden, der uns dort zwei Tage lang ohne Essen im Wald warten ließ, bis wir wieder mit Booten versucht haben, auf die griechische Seite zu kommen. Um 5 Uhr morgens ist es uns dann gelungen, auf der griechischen Seite anzukommen und auch aufgenommen zu werden. Ich bin dann mit meinen Kindern zwei Tage später zu Fuß über Serbien und Nordmazedonien und Österreich weitergeflohen und nach drei Wochen schließlich nach Deutschland gekommen.

Ich habe nicht daran geglaubt, dass meine Kinder und ich an einem sicheren Ort lebend ankommen würden – nur Gott konnte es wissen. Wir haben eigentlich damit gerechnet, dass wir irgendwann unterwegs sterben müssen, wie so viele andere Menschen während der Flucht.

„Das Gebetbuch hat mir unterwegs viel Kraft gegeben. Es hat mich und meine Kinder beschützt.“

Das Gebetbuch ist für uns Muslime sehr wichtig. Wir glauben fest daran, dass es uns in allen Situationen Schutz gibt. Auch im alltäglichen Leben sollte man es bei sich tragen – denn man sagt: „Man weiß nicht, wann und wo man stirbt, und als toter Mensch sollte man es bei sich haben.“ Das Gebetbuch hat mir unterwegs viel Kraft gegeben. Es hat mich und meine Kinder beschützt.

Ich habe es die ganze Flucht bei mir gehabt. Es ist sogar übers Wasser mitgekommen, zwar nass, aber es ist nicht weggekommen. Ich habe viele Papiere und viele andere Gegenstände verloren, aber das Buch hat die Flucht überlebt. Ich habe es heute immer bei mir, es erinnert mich jedes Mal an meine Flucht nach Deutschland. Die Perlenkette gehört zu unserem Gebetbuch dazu.

Es ist für mich, als würde ich hier in einer anderen Welt leben. In meiner Heimat war ich gezwungen, mein Kopftuch zu tragen, was ich hier ablegen konnte. Es ist für mich sehr wichtig, dass ich hier Freiheiten und Rechte habe. Ich kann mit meinen Kindern in Schutz und in Sicherheit leben. Auf der Straße brauche ich keine Angst zu haben, von irgendjemandem verfolgt zu werden. Ich brauche mir keine Sorgen mehr um meinen Mann zu machen, und ich bin froh darüber, dass meine Kinder hier eine Zukunft haben.

Durch die Flucht habe ich gelernt, dass Frauen dieselben Rechte wie Männer haben. Ich kann jetzt zusammen mit meinem Mann arbeiten gehen, ich muss nicht zu Hause bleiben und nur meine Rolle als Hausfrau annehmen. In unserer Kultur im Islam ist es nicht gewöhnlich, dass die Frau Rechte hat, und dass die Frau arbeiten geht, das gehört sich einfach nicht. Das erlebe ich hier anders – und das ist auch das, was mich glücklich macht und mir neue Hoffnung gegeben hat.