Geboren am 16.06.1931

Flucht aus dem DDR-Grenzstreifen 1952 nach Westdeutschland

„Wir wussten nicht, wo es hinging, das war das Schlimmste. Mein Bruder und ich hatten erst die Absicht, aus dem Zug zu springen, aber du kamst ja gar nicht heraus. Wir sagten uns: „Komm, wir hauen ab. Mutter und Vater können sie nicht viel antun, die sind alt, aber uns beide haben sie sonst.“ Das war aber nicht möglich – die hätten uns auf der Flucht erschossen.“

Ich war das jüngste von acht Geschwistern. Am 5. Juni 1952, dem Sonntag nach Pfingsten, kam meine Mutter mir aufgebracht entgegen und sagte: „Die Henker waren da!“

Mein Vater saß in der Küche und weinte. „Wir müssen raus. Wir werden zwangsevakuiert. Sie meinen, wir wären nicht linientreu.“
Meine Mutter sagte: „Wir müssen dafür sorgen, dass wir einen Lastwagen kriegen, damit wir einige Möbel mitnehmen können, sonst kommen wir weg ohne was.“

Ich habe nur gefragt: „Aber wohin denn?
Sie hat mich eindringlich angeschaut: „Das wissen wir nicht. Es kann sein, dass wir nach Sibirien oder sonst wohin in Russland müssen. Wir wissen es nicht.“
Ich bekam einen Schreikrampf. Dann bin ich zu meiner Freundin gegangen und habe ihr alles erzählt. Sie nahm mich in den Arm und sagte: „Hier, das nimmst du mit! Das ist die Kette von deiner Erstkommunion.“ Sie hat sie mir in eine Tasche gesteckt. Es war ein Geschenk zur Kommunionsfeier – das einzige, was ich damals bekommen habe und das ich immer noch von zu Hause habe. Und einen Rosenkranz habe ich noch, den hatte ich auch in der Handtasche. Ich habe ihn zur Kommunion von einem Jagdfreund meines Vaters bekommen.

Elfriede Scharff – Taufkleid
Taufkleid

„Sie haben uns behandelt wie die Viecher.

In Heiligenstadt stand ein riesengroßer Zug mit Waggons, da mussten wir alle hinein. Wir waren mit zwei oder drei Bauernfamilien in einem Waggon. Mann hatte kaum so viel Luft gelassen, dass wir atmen konnten. Vorne und hinten standen Russen mit schussbereiten Maschinenpistolen. Mittags um ein Uhr herum ging es los. Wir wussten nicht, wo es hinging, das war das Schlimmste. Mein Bruder und ich hatten erst die Absicht, aus dem Zug zu springen, aber du kamst ja gar nicht heraus. Wir sagten uns: „Komm, wir hauen ab. Mutter und Vater können sie nicht viel antun, die sind alt, aber uns beide haben sie sonst.“ Das war aber nicht möglich – die hätten uns auf der Flucht erschossen.

In Halle haben wir das erste Mal Halt gemacht, da durften wir aussteigen und auf Toilette gehen. Dann sind wir weiter nach Wolfen bei Halle in ein Lager gekommen. Als wir ausgestiegen sind, haben die Kirchenglocken den Sonntag eingeläutet. Da ist kein Auge trocken geblieben.
Meine Cousine war dabei, die hatte ein acht Monate altes Kind.
Ich sagte: „Anni, dass du mitgegangen bist!“
Da sprach sie: „Die wollten mich an die Wand stellen, wenn ich nicht mitgehe.“

Wir kamen schließlich nach Beesenstedt in ein riesengroßes Gut. Es wurden ein paar Säcke und Decken hingelegt, auf denen wir schlafen konnten, wir bekamen auch etwas zu essen. Mehr gab es nicht – sie haben uns behandelt wie die Viecher, auf Deutsch gesprochen. In Wanfried haben sie später immer zu uns gesagt: „Kartoffelkäfer!“ und „Flüchtlinge sind das größte Ungeziefer, was es gibt!“ So haben sie uns behandelt hier drüben.

Wir sind immer wie Flüchtlinge behandelt worden, immer. Ich bin nachher schon mal ins Kino gegangen, wo ich Geld verdient habe, das hat glaube ich 70 Pfennig gekostet. Da wurde gesagt: „Das wollen Flüchtlinge sein – und können ins Kino gehen?“ So sind wir behandelt worden.

Im Grenzmuseum gibt es heute noch ein großes Buch, in dem festgehalten ist, was damals alles geschehen ist. Da steht am 6. Juni 1952: „Zwangsevakuierung, Parole Ungeziefer.“ Viele Bauern haben sie damals mit dem Güterzug von Heiligenstadt weggebracht, und da waren wir mit dabei. Ich habe gedacht: „Schlimmer kann es ja im Krieg nicht gewesen sein.“ Wenn ich Monate oder Jahre danach Waggons gesehen habe, habe ich immer Gänsehaut gekriegt. Ich wusste: Da warst du mal drin, das war furchtbar. Auch wenn ich heute daran denke, oder wenn ich Flüchtlinge sehe, kann ich das manchmal nicht ertragen. Auf der Flucht bin ich 21 Jahre alt geworden.

Taufkleid:

Als ich mit meiner Tochter schwanger war, hat meine Tante mir das Kleid geschickt. Das ist ein Kleid, in dem mein Bruder 1915 getauft worden ist, und ich als letztes. Auch meine Kinder sind alle darin getauft worden. Das ist Handarbeit und inzwischen 105 Jahre alt, das Kleidchen. Das haben viele Kinder schon angehabt, die getauft worden sind. Es gibt einen rosa Rock drunter und einen hellblauen. Wenn’s ein Mädchen war, kam rosa drunter, und wenn es ein junge war, kam hellblau drunter.