Flucht 31. Juli 1961 DDR » Bad Sooden-Allendorf

„Morgen früh müssen wir deinen Sohn holen, der hat sich was zuschulden kommen lassen. Wir müssen ihn vernehmen.“ Da wusste ich: Jetzt kann er nichts mehr für mich tun.

Mein Name ist Karl-Heinz Wehr, ich bin am 10. Dezember 1943 in Uder geboren worden. Ich bin dort aufgewachsen, habe als Beruf dann Förster gewählt, bin beim staatlichen Forstamt in Heiligenstadt angestellt worden und bin in die Grundausbildung zum Förster im Kreis Nordhausen gekommen.

Bei einem Praktikum habe ich meinen Ausbildungschef, den Oberförster Pingel vom Forstamt in Heiligenstadt, kennengelernt. Dem wurde ich unterteilt, und so ergab es sich, dass wir vertraut wurden. Wir merkten, dass wir beide politisch nicht viel mit dem Staat im Sinn hatten. Ich habe ihm gesagt: „Ich mache eine Ausbildung als Messtruppführer und muss ‚bis null‘ hier oben in Asbach an die Grenze ran.“ Es würde mir leichtfallen, über die Grenze zu kommen, ich hätte das schon mal getestet. Er rauchte viel – wenn er eine besondere Vorliebe hätte, sagte ich ihm, dann würde ich ihm in Allendorf etwas besorgen können, ich hätte schon mal einen Test gemacht bis vor den Ort und wieder zurück.

Dann erfuhr ich, dass er Leute versteckt hatte. „Ich kann dir helfen, die Leute über die Grenze zu bringen“, bot ich ihm an. Das waren politisch Verfolgte, nahm ich an, die hatten wahrscheinlich schon im Gefängnis gesessen. Zunächst brachte ich einen ersten Freund über die Grenze. Seine Mutter war bei einem Verwandtenbesuch im Westen geblieben, er war allein. Ich erzählte Oberförster Pingel davon, und er sagte: „Ja Gott, dann habe ich was für dich.“ Und so konnte ich dann noch drei Männer und drei Frauen über die Grenze bringen – über meine ausgesuchte Fluchtecke in Asbach oben, ich hatte genau ausbaldowert, dass ich dort schlecht von Grenzern eingesehen werden konnte.

Karl-Heinz Wehr – Fernglas
Fernglas

Es war eine etwa achtstündige Fluchtroute von Uder aus. Der Förster hatte dort alle in ein Waldstück gebracht, weiter durfte auch er nicht. Es ging langsam voran in den Wäldern, die ich wie meine Hosentasche kannte. Ich habe die Leute aufgeklärt: „Es geht nur durch Wälder und Kornfelder, ihr dürft nie auf einen Ast treten, denn ich weiß nicht, wo hier schon weit vor der Grenze Fußpatrouillen sind.“ Die anderen Grenzer kannte ich, die regelmäßig mit ihren Kübelwagen oder Motorrädern umherfuhren. Die hörte und sah man. Aber die große Gefahr waren diese Pendelposten, die es schon zwei, drei Kilometer vor der Grenze gab. Ich hatte das Gefühl, dass ihnen kein anderer helfen konnte, und für mich war es inzwischen ein leichtes Spiel geworden. Mir ist im Leben wichtig geworden, Menschen, die so in Bedrängnis kamen wie diese, zu helfen – auf alle Fälle. Ich würde das immer wieder genauso machen. Und ich glaube, ich hätte auch noch heute den Mut dazu, vielleicht wäre ich noch vorsichtiger.

„Es ist schon ein schlimmes Gefühl, wenn geschossen wird und man weiß, die Schüsse gelten einem selbst.“

Ich hatte einen großen Beschützer in Uder, das war der Abschnittsbevollmächtigte für den Westkreis Eichsfeld, der direkt neben mir wohnte und mich gut kannte. Er mochte den Staat genauso wenig wie ich, tat aber seine Pflicht. Er gab meinem Vater dann eines Tages in der Kirche den Hinweis: „Morgen früh müssen wir deinen Sohn holen, der hat sich was zuschulden kommenlassen. Wir müssen ihn vernehmen.“ Da wusste ich: Jetzt kann er nichts mehr für mich tun. Er war wahrscheinlich selbst von oben überwacht worden.

Am Abend des 31. Juli 1961 habe ich meine Sachen gepackt. Ich habe noch einen Freund mitgenommen, der auch immer über die Grenze wollte. Aber dem konnte ich nie so recht trauen, der war ein Klatschmaul. Ich habe zu ihm gesagt: „Wenn du mitwillst – in einer Stunde ist es soweit. Ich muss selber weg.“ Jetzt hatte er nur noch eine Stunde Zeit, die musste ich ihm geben. Ich habe ihm noch eine Forstmütze zur Tarnung besorgt, falls uns doch jemand irgendwo mit einem Fernglas von weitem gesehen hätte. Dann sind wir nachts durch die Wälder gelaufen und haben gegen Morgen dann die gleiche Route genommen, die mir so sicher erschien.

Da hörte ich auf einmal Hunde und wusste, dass ich schon gesucht wurde. Sie ahnten wohl, wo ungefähr der Grenzdurchbruch sein sollte. Mit Hunden war es schlecht – ich wusste, die können eine Spur aufnehmen. Wir sind dann mehrmals durch einen Bach hin und wieder zurück gelaufen. Aber es wurde schon hinter uns geschossen. Ich wusste, dass sie uns eigentlich nicht treffen können, denn die Gegend war sehr unübersichtlich, da waren noch Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg. In die sind wir rein und raus und haben uns hinter Bäumen versteckt. Wir hörten, wie die Schüsse immer näher kamen. Ich wusste, dass die nur ihre Pflicht erfüllen, aber das war Wahnsinn. Ich hätte nie auf andere geschossen. Mein Antrieb war: Es musste klappen! Ich sagte mir: „Du hast den Menschen vor dir so gut helfen können, und jetzt musst du da auch durchkommen.“

Ich hatte ja nichts Unrechtes für meine Begriffe getan. Für den Staat ja, für den war ich wahrscheinlich ein ganz Schlimmer. Es ist schon ein schlimmes Gefühl, wenn geschossen wird und man weiß, die Schüsse gelten einem selbst. Dann verhallten sie aber zum Glück. Wir sind aus unserer Deckung herausgekommen und haben die Grenze passiert. In Allendorf haben wir uns beim Grenzschutz gemeldet.

Gegenstand: Fernglas

Es ist mein Fernglas, das ich auch dienstlich benutzt habe, aber privat in Jena gekauft habe. Es ist ein gutes Zeiss-Fernglas, das habe ich als Einziges mitgenommen. Ich hätte gern mehr mitgenommen, aber ich habe immer gesagt: „Die Flucht kann schiefgehen, und dann willst du dich irgendwie verteidigen. Und wenn ich dann andere Dinge dabeigehabt hätte, hätte man mir leicht vorwerfen können, dass ich fliehen wollte! So nahm ich nur meine Stiefel, meine Uniform und mein Fernglas mit; da hätte man mir nie etwas beweisen können. Ich habe es auf der Flucht auch gebraucht – jedes Mal, wenn ich aus einem Waldstück herauskam, habe ich erstmal geguckt: Wo könnte hier ein Grenzer sein? Die hätte ich sofort ausfindig gemacht.