Flucht 1971 Tschechoslowakei » Tunesien » Deutschland
Geboren am 6.4.1948 in der ehemaligen Tschechoslowakei
„Sie müssen das machen, wenn Sie zum Staatsexamen zugelassen werden wollen.“ Dann haben natürlich alle unterschrieben. Da wusste man schon, wie es weitergehen wird. Jeder war verdächtig.
Ich bin, wie man es aus der ehemaligen DDR kennt, ein typisches Kind des Ostblocks nach dem Krieg. 1968, da war ich 20 Jahre alt, kam es zu einem Schlüsselerlebnis, als der Warschauer Pakt am 21. August 1968 die Tschechoslowakei überfiel. Einige Monate zuvor hatte es den „Prager Frühling“ gegeben. Das Land wurde demokratischer, man konnte ein bisschen freier reden – also etwas, was ich überhaupt nicht kannte. Und man öffnete für etwa ein Jahr die Grenze. Ich habe das sofort in den Ferien ausgenutzt. Eine Freundin und ich meldeten uns bei einem internationalen Verein für Studenten an, der Ferien im Ausland organisierte. So verbrachten wir insgesamt sechs Wochen in Holland und in Belgien.
Den ersten Tag, den 2. Juli 1968, als wir von Prag nach Amsterdam geflogen sind, werde ich nie vergessen. Man spricht zwar immer nur von der Politik – aber dort wollten meine Augen nicht glauben, wie schön bunt die Welt ist! Im gesamten Ostblock war alles grau in grau, da keine Farben hergestellt wurden. Und jetzt Amsterdam im Sommer! Nach sechs Wochen kam ich nach Hause und wusste: In dieser Welt in der Tschechoslowakei will ich nicht mehr leben, und der Gedanke ging dann nicht mehr weg. Ich habe praktisch nur auf die richtige Gelegenheit gewartet. Die bot sich dann drei Jahre später.
Zunächst habe ich 1971 mein erstes Studium in der Tschechoslowakei zu Ende gebracht. Wir Studenten mussten unterschreiben, dass wir mit dem Einmarsch der Russen drei Jahre zuvor einverstanden waren. Man hat nie einen Menschen getroffen, der damit einverstanden gewesen wäre!
Trotzdem hieß es: „Sie müssen das machen, wenn Sie zum Staatsexamen zugelassen werden wollen.“ Dann haben natürlich alle unterschrieben. Da wusste man schon, wie es weitergehen wird. Jeder war verdächtig.
Die Grenze war inzwischen zu, die war so dicht wie in der DDR, ein normaler Mensch konnte nicht mehr rüber. Da habe ich meinen späteren Mann auf einer Messe kennengelernt. Er sagte gleich im ersten Gespräch: „Fräulein, es wird nichts mit uns beiden, ich will nämlich hier weggehen.“ Ich sagte: „Ich auch.“ Ich glaube, am ersten Tag wurde alles geklärt, und wir haben kurze Zeit darauf geheiratet. Seine Mutter war damals Kinderärztin in Tunesien. Im Rahmen der Hilfe der Ostblockstaaten für Afrika hat man da immer Fachleute hingeschickt, meistens für mehrere Jahre, und sie war zu der Zeit in der Hauptstadt Tunis drei Jahre als Kinderärztin tätig. Die direkten Angehörigen durften die Mutter einmal im Jahr besuchen – das ging, man wollte die Kontakte in der Familie nicht ganz unterbrechen. Da mein Mann und ich nun absichtlich schnell geheiratet hatten, gehörte ich in die Familie. Wir fuhren mit dem Auto auf unsere Hochzeitsreise nach Tunesien. Aber es war von uns bereits geplant, dass wir nicht zurückkommen würden.
„Hätte mir jemand gesagt, dass wir erst nach 20 Jahren wiederkommen würden, wäre es vielleicht anders gewesen – ich weiß nicht, ob ich es dann gewagt hätte.“
Es war der 4. Oktober 1971, ein warmer Herbsttag. Mein Mann sagte: „Wir werden bestimmt im ersten Winter kein Geld haben, um uns Winterjacken zu kaufen.“ Also haben wir jeder eine Winterjacke in unserem Škoda angezogen. Der Schweiß ist uns überall gelaufen. Die lassen einen an der Grenze mindestens eine halbe Stunde bis Stunde stehen, ohne dass etwas passiert. Und jetzt mussten wir so tun, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe, als bei der Hitze in so einer Winterjacke zu sitzen. Sonst haben wir nichts mitgenommen, wir wollten durch nichts auffallen – es hat uns immer die Angst begleitet, dass sie uns nicht durchlassen. Vor Allem so junge Leute wie ich mit 23 und mein Mann mit 28 Jahren waren verdächtig. Und dann noch in Wintermänteln! Das hat die Nerven sehr strapaziert.
In Tunesien haben wir dann ein Visum für Deutschland bekommen und auf dem Rückweg einen Antrag für politisches Asyl in der Bundesrepublik gestellt. Damit waren die Würfel geworfen. Mein Mann war immer ein Optimist, der sagte damals: „Ach, nach zwei, drei Jahren wird es wieder gut sein.“ Aber es hat bis zur Wende 1989 gedauert, bis wir wieder in die Tschechei zurückkehren konnten. Hätte mir 1971 jemand gesagt, dass wir erst nach fast 20 Jahren wiederkommen würden, wäre es vielleicht anders gewesen – ich weiß nicht, ob ich es dann gewagt hätte.
„Man ist derselbe Mensch, aber heute soll man nicht mehr ins Gefängnis geschickt werden. Es war damals immer so frustrierend, wie ausgeliefert man der Politik war.“
Ich fahre heute gerne in meine Heimat, immer wieder, weil es nicht so weit ist. Freunde leben dort immer noch, auch Familie, das hatten wir hier im Westen ja zunächst alles nicht. „Man ist derselbe Mensch, aber heute soll man nicht mehr ins Gefängnis geschickt werden. Es war damals immer so frustrierend, wie ausgeliefert man der Politik war.“ Ich habe mich sehr gefreut, dass mir die, mit denen ich Kontakt hatte, keine Vorwürfe gemacht haben, dass ich damals weggegangen bin, dass ich mich nach einem schöneren, nach einem besseren Leben gesehnt habe. Das sind eben Freunde, da spielt das keine Rolle – wenn wir uns früher gemocht haben, dann mögen wir uns auch jetzt noch.
Wenn ich heute eine tschechische Zeitung aufschlage oder tschechisches Fernsehen anschalte, fühle ich mich wieder wie zu Hause. Hier in Bad Sooden-Allendorf bin ich natürlich auch zu Hause, weil ich hier schon so lange wohne. 51 Jahre bin ich jetzt hier – eigentlich viel mehr, als ich in der Tschechei gelebt habe. Die ersten 20 Jahre sind ja aber so prägend wie bei jedem Menschen, die beeinflussen das ganze Leben. Sie haben für mich das gleiche Gewicht wie jetzt die 51 Jahre hier.
Ich finde es grundsätzlich sehr schön, dass die Grenze nicht mehr da ist. Da, wo man immer so viel Leid erlebt hat und Angst, fährt man heute einfach durch. Wenn das so bliebe, wäre ich sehr zufrieden!