„Mama, ich will nicht in den Keller gehen. Ich bin zu jung, um im Keller zu sterben. Weißt du, ich bleibe in der schönen Wohnung in meinem Bett.“

Vor dem Krieg war mein Leben im ukrainischen Rava-Ruska ganz gut. Ich habe zwei Söhne, einer ist 18 Jahre alt, er ist zwei Wochen vor Kriegsbeginn nach Polen zur Arbeit gegangen. Als der Krieg begann, lebte ich im ukrainischen Lemberg mit meinem Partner und meinem achtjährigen Sohn Leonid.

Ich bekam sehr große Angst, als ich die Sirenen hörte, das war alles ganz, ganz schlimm. Kommt die Bombe oder nicht? Was passiert jetzt? Du musst dich schnell anziehen und in den Keller laufen. Zuerst habe ich das immer gemacht, aber dann hat Leonid auf einmal gesagt: „Mama, ich will nicht in den Keller gehen. Ich bin zu jung, um im Keller zu sterben. Weißt du, ich bleibe in der schönen Wohnung in meinem Bett.“ Dass so kleine Kinder mit acht Jahren das schon alles verstehen!

Mein Mann hat dann gesagt: „Du musst schnell den Sohn nehmen und wegfahren, wohin du willst – nach Polen, nach Deutschland.“ Ich wusste nicht: Komme ich zurück in die Ukraine oder nicht? Du musst alles zurücklassen, was du liebst, was du hast, was du schon gut kennst. Du fährst, weißt aber nicht, wohin. Ich packte in zwei Koffer alles, was ich mitnehmen konnte, dazu zwei Rucksäcke mit Essen für mich und für meinen Sohn, dann noch eine Tasche für weitere Kleidung sowie für die Dokumente und meinen Laptop – alles, was ich mitnehmen konnte an wichtigen Dingen. Ich weiß nicht, wie ich das alles tragen konnte. Es war 12 Uhr nachts am 1. März 2022.

Ich blieb noch eine Woche in der Ukraine und kaufte dann Tickets für einen Bus nach Polen. Er fuhr sehr langsam und hatte keine Toilette. Er hielt daher an der Straße, und wir mussten draußen unsere Notdurft verrichten. Mein Sohn wollte schlafen, aber der Bus war so voll! Ich habe mich dann hingestellt, und er hat auf meinem und seinem Platz ein bisschen geschlafen.

Oksana Hoholieva – Kinderbuch
Kinderbuch

An der Grenze gab es einen 15 Kilometer langen Stau. Nach 15 Stunden bekamen wir an der polnischen Grenze warmes Essen, das haben die Polen sehr gut organisiert. Mit dem Bus sind wir dann bis nach Warschau gekommen und haben dort eine Nacht im Bahnhof verbracht. Die Polen waren sehr hilfreich. Sie kamen und sagten: „Hier ist eine Familie, die möchte euch mit nach Hause nehmen, da könnt ihr ein paar Tage schlafen.“ Ich hatte ein bisschen Angst – ich kannte diese Familie ja nicht, aber ich war so müde, dass ich mitging und zwei Tage bei dieser Familie blieb. Dann bin ich mit dem Zug von dort nach Deutschland gefahren. Es war sehr schwierig mit den Koffern und Rucksäcken. Ich hatte drei Minuten Zeit, um in einen anderen Zug umzusteigen. Da sind so viele Leute, und du hast nur eine Hand für dein Kind, es kann dir nicht helfen, und du musst schnell alles packen und das Kind nehmen!

Dann sind wir nach Berlin gekommen. Ich kann ja ein bisschen Deutsch, und es waren auch dort viele Menschen und Freiwillige, die geholfen haben. Wir bekamen Essen. Ich wusste nicht, wohin es dann weitergehen konnte. Im Zug hatte ich andere ukrainische Leute kennengelernt. Eine Frau gab mir die Telefonnummer einer deutschen Familie. „Wenn du willst, kannst du zu ihr fahren.“

Ich rief dort gleich an. Der Mann hat mir gesagt, welchen Zug ich von Berlin aus weiter nehmen muss. Als er mir sagte, dass ich noch einmal umsteigen müsse, sagte ich: „Nein. Ich habe keine Kraft mehr, ich bleibe hier. Ich kann nicht weiterfahren, oder ich lasse alle Koffer hier stehen.“ Etwa zwei Stunden später hat er mich und meinen Sohn in Hannover mit dem Auto abgeholt. Am 3. März 2022 bin ich um 11 Uhr nachts hier angekommen. Zwei Tage war ich total müde und habe mit meinem Kind nur geschlafen und gegessen. Ich hatte ein Dach über dem Kopf – und es fielen keine Bomben.

„Er verstand die anderen Kinder nicht gleich, aber er sah ihr Lachen und wusste, dass alles gut ist.“

Mein Sohn ist in der Schule in der ersten Klasse. In der Ukraine ging er in die 2. Klasse, aber hier in die erste, da er kein Deutsch konnte. Zuerst hat er gesagt: „Mama, das ist zu schwierig, ich will zurück in die Ukraine. Da kenne ich die Sprache und muss sie nicht neu lernen.“ Ich habe ihm gesagt: „Dort ist Krieg, du hast Angst – du musst einfach Deutsch lernen.“ Langsam lernt er die Sprache – und mit den anderen Kindern geht das schnell über Gesten. Die deutschen Kinder sind sehr freundlich. Er verstand sie nicht gleich, aber er sah ihr Lachen und wusste, dass alles gut ist. Jetzt geht er gerne zur Schule.

Mein Mann ist in der Ukraine geblieben. In Lemberg geht er zur Arbeit, er musste als Soldat noch nicht in den Krieg. Ihm wurde gesagt, er müsse warten – wenn sie noch mehr Leute brauchen, dann nehmen sie die von Lemberg. Das ist so schwierig, aber dank Handy und Internet können wir einander sehen und reden – das hilft ein bisschen. Ich telefoniere fast jeden Tag mit meiner Mama. Sie sagt: „Ach bitte, komm zurück – nur ein paar Tage zu Besuch in die Ukraine! Ich vermisse dich so!“

Ich weiß nicht, wann der Krieg vorbei ist, aber ich möchte gerne weiter Deutsch lernen, und dann, wenn alles gut geht, vielleicht sogar hierbleiben. Deutschland gefällt mir sehr, meinem Kind auch. Die Zeit wird zeigen, wie es weitergeht. Ich wünsche mir sehr, dass der Krieg aufhört, dass alles wie vorher wird – aber viele Städte sind schon ganz kaputt. Auch in Lemberg sind schon viele Bomben gefallen. Ich wünsche, dass alle in meiner Familie am Leben bleiben, dass ich gesund bleibe und dass mein Sohn gesund bleibt – das ist das Beste, was ich mir wünschen kann!

Das Buch wollte mein Sohn mitnehmen. Seit seiner Kindergarten-Zeit hat er es. Er trägt sehr gerne sein traditionelles Hemd, es ist ein Symbol für die Ukraine. Er liebt dieses Buch sehr, ich musste es für ihn mitnehmen. Darin sind die anderen Kinder zu sehen, die mit ihm im Kindergarten waren.

Als ich hierhergekommen bin, hat mir meine Mutter dieses Schmuckstück geschenkt, das sind Gott, Maria und Jesus. Sie hat gesagt, dass sie mich auf meinem Weg beschützen. Ich trage es die ganze Zeit bei mir. Auf der Flucht habe ich gefühlt: Ich bin nicht allein, meine Familie und Gott sind bei mir. Ich weiß, dass Gott mich schützt. Manchmal, wenn ich mich schlecht oder schwer fühle, spreche ich beim Schlafengehen das Vaterunser. Dann fühle ich mich ein bisschen besser.