Flucht 2014/2015 Eritrea » Äthiopien » Sudan » Libyen » Italien » Deutschland

Geboren am 1.1.1995

„Unterwegs habe ich Leute getroffen, die mir alle Sachen genommen haben. Ich konnte nichts dagegen sagen, sie haben einfach alles weggenommen. Im Boot nach Italien hatte ich nur noch die Kleidung dabei, die ich trug.“

Ich habe in meiner Heimat Eritrea mit meinen Eltern gewohnt, es war für mich als Kind zunächst alles in Ordnung. Dann wurde meine Mutter sehr krank und starb 2012. Mein Vater sagte daraufhin: „Du musst heiraten!“ Da war ich 17 Jahre alt. Mit meinem Mann war ich aber nur drei Monate zusammen, dann musste er aus politischen Gründen weg, und ich war die nächsten zwei Jahre alleine.

In meiner Heimat war das Problem, dass ich als verheiratete Frau eigentlich bei meinem Mann sein musste. Ich wohnte dann den einen Monat bei den Schwiegereltern, und wenn dort die Polizei kam und nach mir fragte, ging bin ich zu meinem Vater. Es war eine schwierige Zeit – einmal da, einmal da, das ist kein gutes Leben. Ich hatte große Angst, denn wenn sie mich auf der Straße gefunden hätten, hätten sie mich ins Gefängnis gebracht. Deshalb bin ich von dort weggegangen. Im April 2014 bin ich mit Freunden und Bekannten von meinem Ort aus zwei Tage nach Äthiopien gelaufen und habe dort einen Monat im Camp gelebt. In Äthiopien hatte ich allerdings auch Angst, weil das ganz nah an meiner Heimat ist, dort konnten sie mich auch finden.

„Ich wollte einfach, dass mein Leben besser wird, ich wollte einfach wegkommen.

Mehret Brhane Yefter
Nichts

Ich bin dann in den Sudan gegangen. Die Reise dorthin hat sieben Tage gedauert. Manchmal sind wir in die falsche Richtung gelaufen, weil wir die Route nicht kannten. Essen und Trinken hatten wir ein bisschen dabei, aber nicht so viel – für sieben Tage ist das nicht einfach. Alle Leute hatten nur eine Flasche Wasser, man konnte immer nur ein bisschen davon trinken, nicht alles auf einmal. Wenn wir unterwegs Wasser gefunden haben, nahmen wir das, auch, wenn es sehr schlecht war – wir konnten es ja nicht einfach stehlen.

In meiner Heimat hatte ich bereits eine Berufsausbildung als Friseurin angefangen, damit habe ich im Sudan weitergemacht, nach sechs Monaten war ich fertig. Dann habe ich dort zwei Monate gearbeitet, aber das Leben war schwer. Ich musste als Christin auch ein Kopftuch und lange Kleider tragen. Ich bin schließlich nach Libyen gegangen, dort habe ich auch viel Wasser von der Straße getrunken. Ich war zwei Monate lang sehr krank – ohne Medizin, ohne Essen. Daher beschloss ich, von dort aus nach Europa zu fahren. An der libyschen Grenze musste ich Geld zahlen. Ich telefonierte mit meinem Vater in meiner Heimat und sagte ihm, dass ich lange unterwegs gewesen und nun sehr krank sei, und dass ich nach Europa wolle, aber er es zahlen müsse – sonst dürfe ich nicht in das Boot für die Überfahrt hinein. „Ja“, antwortete mein Vater, „ich werde das gerne machen und meine Tochter nicht einfach sterben lassen. Ich versuche, es so schnell wie möglich zu zahlen.“ Ich habe zwei Monate gewartet, dann hatte mein Vater alles gezahlt.

Mit dem Boot war ich eineinhalb Tage auf dem Wasser. Es war ein schlechtes Boot, es kam immer wieder Wasser hinein. Aber wir hatten Glück, weil wir schnell Hilfe bekamen. Ein großes Schiff brachte uns nach Italien. Ich wusste: „Ich muss zu meinem Mann.“ Er war bereits geflüchtet und wohnte in Deutschland. Ich kaufte mir ein Ticket von Livorno nach München und von dort nach Gießen, wo ich zunächst ins Aufnahmelager kam. Ich wusste nicht, wo mein Mann genau ist – zum Glück konnte ich ihn anrufen, und er schickte mir die Adresse.

Wir haben uns am 20. August 2015 wiedergetroffen. Schnell war ich schwanger und habe einen Sohn bekommen. Er ist jetzt sechs Jahre alt, und ich habe noch eine kleine, vier Jahre alte Tochter. Zuerst war unsere Ehe in Ordnung, bis mein Sohn etwa ein Jahr alt war, danach verstanden wir uns nicht mehr gut. Mein Mann zog dann nach Kassel, und ich bin seitdem alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern.

Ich habe unterwegs viele Menschen aus verschiedenen Ländern getroffen. Viele hatten Respekt, das habe ich unterwegs vor allem kennengelernt – jedem Menschen haben sie geholfen, egal von welchem Ort oder Land er kam. Als ich so krank war, habe ich von dem einen oder dem anderen ein bisschen zu essen oder trinken bekommen. Und sie haben mir gute Wünsche mit auf meinen Weg gegeben: „Du kannst jetzt stark sein!“

„Manchmal fragt mich mein Sohn: ‚Warum bist du hier? Warum bist du nicht bei deinen Eltern?

Ich habe einen guten Kontakt mit meinem Vater, wir telefonieren viel. Wir haben auch immer wieder geplant, uns zu treffen. Ich darf zwar nicht in meine Heimat zurück, aber mit meinem deutschen Pass kann ich in den Sudan oder nach Äthiopien reisen. Er hat mir angeboten: „Ich kann gerne nach Äthiopien reisen, dann kannst du dorthin kommen und wir können uns dort treffen. Ich möchte auch so gerne meine Enkelkinder sehen.“ Ich habe es aber die letzten Jahre nicht geschafft, weil ich hier arbeiten muss und mit meinem Sohn ein paar Probleme habe. Er hat bis zum Alter von vier Jahren nicht geredet. Er spricht jetzt, aber er bekommt noch viele Therapien. Mir ist es ganz wichtig, für meinen Sohn auch in Zukunft mit den Therapien weiterzumachen. Und deshalb habe ich bisher meinem Vater sagen müssen: „Es geht leider nicht.“

Ich war sehr jung, als ich aus meiner Heimat weggegangen bin. Ich vermisse sehr viel, meine Freunde, auch einfach meinen Ort und meinen Vater. In Bad Sooden-Allendorf hatte ich am Anfang in den ersten Monaten keinen Kontakt, weil ich die Sprache nicht verstand und auch nicht sprechen konnte, daher bin ich einfach zu Hause geblieben. Dann habe ich gesagt: „So kann ich es nicht. Will ich hier leben, muss ich raus, muss das auch lernen.“ Es ist inzwischen meine zweite Heimat geworden, meine „ruhige“ Heimat, wie ich es nenne. Sie bedeutet für mich ein zweites Leben. Man kann auf der Flucht viel verlieren, man kann auch sterben – viele Freunde sind auf der Flucht umgekommen. Ich hatte das Glück, nicht zu sterben. Im FamilienZentrum habe ich andere Frauen getroffen – seitdem komme ich fast jede Woche mit meinen Kindern hierher. Das FamilienZentrum ist wie meine zweite Wohnung, sage ich immer.

Für meine Kinder ist alles gut, sie sind hier geboren, sie haben Glück. Sie können zu Untersuchungen zum Arzt, gehen zufrieden in den Kindergarten und bald in die Schule. Sie wissen nicht, was alles in meiner Heimat passiert ist. Manchmal fragt mich mein Sohn: „Warum bist du hier? Warum bist du nicht bei deinen Eltern?“ Ich sage ihm dann, dass ich jetzt nicht dorthin fahren kann. Wenn sie groß sind, kann ich ihnen gerne meine Geschichte erzählen, aber jetzt können sie sie noch nicht verstehen. Ich wünsche meinen Kindern sehr, dass sie nicht wie ich leben müssen, sie sollen es gut haben in Deutschland.

Gegenstand: Keiner

Ich hatte ein bisschen auf die Reise mitgebracht – ein Telefon, eine Kette und Ohrringe, ein paar Klamotten zum Wechseln. Aber ich bin bis hierhin lange gereist – und zwischen dem Sudan und Libyen habe ich Leute getroffen, die mir alle Sachen genommen haben. Ich konnte nichts dagegen sagen, sie haben einfach alles weggenommen. Im Boot nach Italien hatte ich nur noch die Kleidung dabei, die ich trug.