Flucht ihrer Tante Hilde aus Schlesien nach Pirna und
Hennersdorf 1945

„Halt das Kind in den Armen und tu so, als ob es noch weiter lebt, denn sonst schmeißen sie es aus dem Waggon.“

Meine Tante Hilde musste im Januar 1945, einem eisigen Winter, die Flucht aus Schlesien antreten. Ihr Vater hatte sie am Ende des Zweiten Weltkriegs immer gedrängt: „Kommt raus, kommt raus aus Schlesien!“
Doch sie wollte zunächst nicht. Am 21. November 1944 war ihre Tochter Elke dort geboren worden. „Das Kind ist zu klein, es stirbt mir unterwegs! Ich weiß nichts von meinem Mann, wo der geblieben ist. Ich schaffe das alleine nicht. Wir bleiben hier!“
Gemeinsam mit ihren Eltern – den Großeltern von Elke – wurden sie schließlich in einem Viehwaggon abtransportiert. Darin befand sich ein kleiner Ofen, eine Art beheizte Tonne. Es waren sehr viele Menschen mit in dem Waggon, und es bildete sich wohl Kohlenmonoxid – offensichtlich ist der Säugling daran erstickt.
Meine Tante sagte zu ihrer Mutter nur: „Die Elke ist tot.“
Die Großmutter antwortete ihr: „Halt das Kind in den Armen und tu so, als ob es noch weiter lebt, denn sonst schmeißen sie es aus dem Waggon.“ Ihre Oma war eine taffe Frau, die selbst schon einige Kinder in jungen Jahren verloren hatte.
Als der Zug hielt, war Hildes Tochter Elke tot und begraben – und nur die Kinderrassel war übriggeblieben.

Meine Tante hat sich wegen des Todes ihres Kindes hinterher völlig vergraben, weil sie sich schwere Vorwürfe gemacht hat, dass sie schuld am Tod des Kindes sei: „Wäre ich nicht rausgegangen, wäre das Kind am Leben geblieben!“ Das hat sehr schwer auf ihr gelastet, sie hat es Zeit ihres Lebens nicht richtig überwunden. Keiner konnte ihr helfen, und sie musste ihren Schmerz alleine mit dieser doch sehr resoluten Oma bewältigen. Mich berührt vor allem ihr Leid – dass sie es so mit sich selbst austragen musste. Damals gab es keine psychologische Betreuung für diese Menschen, sie mussten sehen, wie sie zurechtkamen. Dieses Fluchtschicksal hat meine Tante immer begleitet, aber sie hat wenig darüber geredet. Sie hat es irgendwie verdrängt.

Wolfgang Ruske
Kinderrassel

Meine Frau und ich haben meine Tante Hilde später oft in Lippstadt besucht, es gab immer eine sehr schöne Verbindung zwischen uns. Die Gespräche brachten das Leid und das Schicksal des kleinen Püppchens immer wieder in Erinnerung. Ihre Eltern wünschten uns, dass unsere Generation von so einer Not verschont werden solle, dass wir nicht noch einmal einen Krieg erleben müssten. All das waren Worte, die sie uns mit auf den Weg gaben. Die Kinderrassel ist noch heute in unserem Familienbesitz und erinnert uns an unsere Tante, ihr Kind und die Gräuel des Krieges.

Wenn ich mir heute die Flüchtlingsströme ansehe, dann denke ich immer wieder: „Das ist meiner eigenen Tante auch passiert.“ Es bewegt mich, wenn ich daran denke, wie sorgenfrei mein Bruder und ich mit unserer Mutter aus Schlesien herausgekommen sind und so etwas Schlimmes nicht erleben mussten. Man fühlt sich auch so hilflos. Man kann nicht helfen und denkt: Was wäre, wenn es unsere eigenen Kinder wären? Wir, die wir im Grunde gesund und sorgenfrei in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, und unsere Kinder erst recht? Wenn ich sehe, wie meine Enkel und Urenkel dieses Schicksal nicht erleiden müssen, berührt es mich stark.

„Wir können von hier aus die Welt nicht verbessern, wir können nur helfen, einige Schicksale aufzunehmen und diesen Menschen mit ihren Kindern etwas Halt geben.“

Wenn man dann die Fluchtbewegungen auf der ganzen Welt und dabei vor allem die ganz Kleinen sieht, fragt man sich: Wie kann ich helfen? Wie kann man so etwas verbessern, dass noch mehr Frieden eintritt? Wir können von hier aus die Welt nicht verbessern, wir können nur helfen, einige Schicksale aufzunehmen und diesen Menschen mit ihren Kindern etwas Halt geben. Die Not und der Krieg zwingt sie, ihr Land zu verlassen.

Meine Vision ist es, dass jeder in seinem Land, wo er geboren und aufgewachsen ist und wo seine Identität ist, frei und ordentlich leben kann, so wie wir das hier können. Ich möchte, dass jeder dort, wo seine Wurzeln sind, in Frieden und Freiheit leben kann.