Flucht 1979 Chile » England » Spanien » Frankreich » Kassel

Geboren am 6.4.1958 in Chile

„Wenn man in der Ausgangssperre erwischt wurde, wurde man nicht gefragt, was man gemacht hat, oder festgenommen, sondern manchmal einfach erschossen.“

Es fing alles im Jahr 1970 an, als in Chile eine sozialistisch-progressive Regierung an die Macht kam. Der neue Präsident hieß Salvador Allende. Ich war noch ein Kind mit meinen zwölf Jahren. Ich habe miterlebt, welche Veränderungen das für uns in dieser knappen Zeit – er war nur drei Jahre an der Macht – waren. Die sozialistische Regierung wollte ein besseres Leben für das Volk ermöglichen, für die Arbeiterklasse, und das haben wir gespürt. In der Schule bekam zum Beispiel jedes Kind Zugang zu einem Liter Milch, das war für uns damals undenkbar. Wir konnten auch in der Schule essen, alles war umsonst, auch unsere Bücher.

Chile war zu der Zeit ein Land, das von Geld regiert wurde, von mächtigen Familien. Die neue Regierung hat viele Sachen verstaatlicht, zum Beispiel die Kupferminen, die damals immer von ausländischen Betrieben geführt wurden – und alles, was Chile an Reichtum hatte, wurde ins Ausland geschickt. So vergingen die Jahre, und die mächtigen Leute der Gesellschaft wollten das nicht erlauben und haben daher gegen die Regierung gearbeitet – so weit, dass sie das Militär motivierten, am 11. September 1973 einen Militärputsch zu machen. Da fingen die Verfolgungen an. Ich war mittlerweile 15 Jahre alt und habe die Ungerechtigkeiten miterlebt.

Es wurden viele Leute verfolgt, viele kamen ins Gefängnis oder gingen ins Asyl – und viele verschwanden einfach. Auch wir leisteten Widerstand gegen die Militärregierung, wir protestierten und haben uns in der Schule organisiert.

Juan Jeria Naranjo
Tasse

Das waren richtig gefährliche Jahre, weil die Militärdiktatur gegen alles schrecklich brutal vorging – man durfte sich nicht mit Freunden treffen, man durfte nichts machen, nicht auf die Straße gehen. Ich habe meine ganze Jugend unter der Sperrstunde gelebt – bis ich das Land 1979 verlassen habe. Wenn man in der Ausgangssperre erwischt wurde, wurde man nicht gefragt, was man gemacht hat, oder festgenommen, sondern manchmal einfach erschossen.

„Ich bin immer noch unterwegs.“

Ich wollte nicht unter dieser Militärdiktatur leben. Ich war ein junger Mann mit vielen Zielen, die ich nicht erreichen konnte. So kam es, dass ich irgendwann angefangen habe, einen Job zu machen, um Geld zu sparen und ein Ticket zu kaufen. Das war im Juni 1979. Mein Job hat nur für ein Hin-Ticket gereicht. Ich sage immer, wenn ich meine Geschichte erzähle: „Ich bin immer noch unterwegs.“ Mein Rück-Ticket habe ich noch nicht gekauft.

Mein Ziel war damals England. Und so bin ich in London gelandet. Nach einem Jahr ging ich nach Spanien. Dort hatte ich den Vorteil der Sprache, ich musste keine neue lernen. Dort bin ich zwei, drei Jahre geblieben und habe „überlebt“. Als junger Mann hat man keine Angst, man lebt einfach mal in den Tag hinein, man braucht auch nicht viel. In Bilbao hatte ich dann eine deutsche Freundin, die mich nach Kassel eingeladen hat. In diesen zwei Wochen habe ich viele Leute aus Südamerika kennengelernt, die eine ähnliche Geschichte wie ich hatten – Leute aus Bolivien, Uruguay, Chile. Ich fühlte mich so wohl in Kassel, dass ich dort geblieben bin. Die Menschen dort haben mir auch geholfen, die Sprachschule zu besuchen, und sie haben mich unterstützt, meine Ausbildung zu machen.

„Es sind dann nur die Erinnerungen, die bleiben.“

Das Schwierigste war, meine Familie zu verlassen. Es sind dann nur die Erinnerungen, die bleiben. Ich habe den Tag, an dem ich das Land verlassen habe, noch genau in meinem Kopf. Wegen der Diktatur konnte ich nicht zurückkommen. Die waren nach meinem Weggang noch 17 Jahre an der Macht. In dieser Zeit sind viele aus meiner Verwandtschaft gestorben – mein Vater, meine Mutter, viele Onkel und ein paar Geschwister. Das war das Schwierigste – auf einmal ohne die Unterstützung von meiner Familie mein Leben zu gestalten.

Wenn man in ein fremdes Land kommt, ist man nicht gleich da. Man fühlt sich nicht gleich heimisch. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern man braucht Zeit, um so viele Sachen zu bearbeiten. Irgendwann fängt man an, alles zu verstehen – die Mentalität, den Humor der Leute, die Art und Weise, wie die Leute handeln. Und dafür braucht man die. Man muss immer selbst zu den anderen rausgehen. Ich habe nie meine Vergangenheit aufgegeben. Das ist immer da, und die Erinnerungen sind immer da, und das ist etwas, das bei mir bleibt. Ich habe andere Sprachen gelernt, andere Kulturen und Menschen kennengelernt, aber ich weiß: Meine Kindheit war in Chile, und das wird immer so bleiben.

Gegenstand: Becher

Die Geschichte des Bechers hat einen traurigen Hintergrund. Bis heute suchen wir einen Freund von uns, unser Nachbarkind sozusagen. Er war damals ein Jugendlicher, der während der Diktatur verschwunden ist. Er wurde festgenommen – wir wissen, wo sie ihn hingebracht haben, und wir wissen auch, was ihm passiert ist, aber wir haben seinen Körper nie gefunden. Ich habe ihn etwa zehn Tage vor seinem Verschwinden noch getroffen. Wir haben ihn gewarnt, er solle sich nicht zeigen, weil er vom Militär verfolgt wurde. Er sagte, dass er das wüsste. Er hat wahrscheinlich dem Druck nicht standgehalten und sich freiwillig dem Militär gestellt. Das muss Ende September gewesen sein, und im Oktober ist er dann mit vier anderen Jugendlichen, die ich auch aus unserer Stadt kannte, verschwunden.

Ich war vor fünf Jahren in Chile in meiner Heimatstadt San Antonio, da wurde ein Gedenktag für sie abgehalten. Man sagt, die vier Jungs seien aus dem Helikopter ins Meer geworfen wurden. Ich konnte zum Glück diesen Jahrestag mit der Verwandtschaft der Leute verbringen und an sie erinnern. An diesem Tag wurde mir die Tasse überreicht.

Lied

Es gibt ein Lied der Gruppe „Illapu“, die sich in Nordchile gegründet hat. Sie hat damals in den 70er Jahren die sozialen Probleme zu Musik gemacht. Ende 1973 haben sie ein Konzert in meiner Stadt gegeben. Das war für mich die erste politische Veranstaltung gegen die Militärdiktatur. Die Gruppe hat eine Tour durch Europa gemacht, und sie durften danach auch nicht wieder nach Chile zurück, sie haben politisches Asyl in Frankreich bekommen.

Diese Gruppe hat ein Lied kreiert, das „Tres Versos Para Una Historia“ – „Drei Verse für eine Geschichte“ – heißt. Sie versetzen sich in dem Lied in die Geschichte eines Vaters, der verschwunden ist und der seiner Familie sagt: Sie sollen ihn nicht vergessen, er ist nicht für immer weg, er wird zurückkommen. Diese Geschichte bricht mich immer. Es sind so viele Leute verschwunden, auch viele Frauen.