Flucht von Waldenburg/Niederschlesien » Görlitz » Braunschweig

„Pack deine Sachen und hau ab! Versuche zu Fuß in den Westen zu kommen – die wollen dich nach Sibirien befördern.“

Ich war Soldat bei der Gebirgsartillerie in Garmisch-Partenkirchen im Offizierslehrgang, bin noch im Fronteinsatz gewesen und dann in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der ich im September 1945 entlassen wurde. Ich kehrte zunächst nach Niederschlesien zurück, um zu sehen, ob meine Familie überhaupt noch lebt. Zum Glück waren alle noch da, selbst mein Vater – es war ein Wunder, dass die Russen ihn nicht nach Sibirien verschleppt hatten, denn er war Bataillonskommandeur im Zweiten Weltkrieg gewesen.

Damit ich selbst nicht nach Sibirien deportiert wurde, verpflichtete ich mich auf einem Rittergut bei den Kosaken und musste dort die Pferde pflegen. Da meine Familie am Verhungern war, klaute ich natürlich aus diesem Rittergut heraus, was ich rausklauen konnte. Die Kosaken sahen darüber weg, aber die deutschen Kommunisten nicht. Sie zeigten mich bei der russischen Polizei an.
Deren Kommandant warnte mich frühzeitig: „Pack deine Sachen und hau ab! Versuche zu Fuß in den Westen zu kommen – die wollen dich nach Sibirien befördern.“
Ich habe mich mit ihm gut verstanden. Er konnte etwas Deutsch, wir waren uns sympathisch. Er wusste als Kosake genau, was Pferdepflegen bedeutet. Ihm hat imponiert, dass ich mit den Pferden so gut umgehen konnte.
Ich war immer ein Mensch der Tat. Ich überlegte nicht lange – Schwierigkeiten hin oder her. Und ich musste fliehen, ich hatte gar keine andere Chance – denn ich wusste, was Sibirien bedeutet.

Ich holte meinen vier Jahre jüngeren Bruder. „Wir müssen hier verschwinden, sonst kassieren sie uns ein!“ Es gab nur die Möglichkeit, zu Fuß wegzukommen. Bis zur Grenze in Görlitz waren es etwa 150 Kilometer, voll mit polnischem und russischem Militär.

Wolfgang Nieselt
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Wir liefen nachts und versteckten uns am Tage. Man wird getrieben von dem Gedanken: „Hoffentlich erwischen sie dich nie.“ Und so schneller du da hinkommst, wo du hinmusst, desto eher bist du in Sicherheit.

In Görlitz fanden wir eine englische Auffangstation für politische Flüchtlinge. Sie packten uns in einen Güterwagen, versigelten ihn und schickten uns nach Braunschweig ins Flüchtlingslager.
„Das Essen, was du hier kriegst, ist zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig“, sagte ich dort zu meinem Bruder. „Raus! Wir organisieren uns unser Essen selber.“
Wir schlugen uns durch, und ich ging dann zum Arbeitsamt. „Wie komme ich als Arbeiter in ein amerikanisch-englisches Militärhotel?“
Der Mitarbeiter schaute mich an. „Gegen 100 Zigaretten.“
Die wurden ja zugeteilt. Ich antwortete: „In vier Wochen komme ich wieder, da habe ich die gesammelt.“
Er hielt Wort und brachte mich wirklich in dem Hotel unter. Mein Bruder und ich bekamen oben im Dachboden eine Kammer. Ich war der „Mann für alles“. Ich hatte dafür zu sorgen, dass, wenn ein LKW kam, die Lebensmittel ordentlich im Keller verteilt wurden. Aber natürlich brachte ich vieles davon schnellstens durch den Kellerschacht nach draußen. Die Leute hungerten ja alle. Eine Gruppe junger Menschen stellte sich schon vor ein ganz bestimmtes Kellerloch – sie wussten, irgendwann kommt da eine Kiste hoch, wo was zum Futtern drin ist.

Das dauerte ein halbes Jahr, dann merkten die bei der Militärpolizei, dass ich ziemlich viel „organisiere“, das heißt auf Deutsch „klaue“. Ein Sergeant von der Militärpolizei sagte: „Sieh zu, dass du verschwindest. Zweieinhalb Jahre bekommst du, wenn sie dich erwischen.“ Die haben natürlich meine Bude auf den Kopf gestellt, aber ich war schlau genug, dass ich da nicht mal eine Zahnbürste hatte.

„Man kann immer bei null anfangen. Jeder. Diese Erfahrung habe ich gemacht. Vergangenheit ist Vergangenheit.“

In der Zwischenzeit waren auch meine Eltern von Niederschlesien nach Ostfriesland verfrachtet worden, das erfuhr ich dann bei der Flüchtlingsstelle, wo alle Flüchtlinge registriert waren. „So, da musst du jetzt hin“, dachte ich, „jetzt ist Schluss mit lustig.“ Ich landete so in Esens. Später wollte ich Medizin studieren, das ging aber nicht, weil ich ein ziemlich hoher HJ-Führer und Offizier gewesen war.
Ich fragte: „Was ist denn erlaubt?“
„Du kannst Architektur studieren.“
„Gut, es ist alles kaputtgehauen worden im Krieg, dann studiere ich Architektur.“

Man kann immer bei Null anfangen. Jeder. Diese Erfahrung habe ich gemacht. Vergangenheit ist Vergangenheit. Ich war nie ein Mensch, der sehr oft zurückgedacht hat, ich war immer Visionär, ich habe mich immer gefragt: Was machen wir in der Zukunft?

Ich habe später meine Kinder und Enkelkinder, die mitwollten – es waren vier oder fünf – mitgenommen und gesagt: „Es hat keinen Sinn, dass ich euch irgendetwas erzähle und Fotos zeige, das bringt nicht viel. Ihr müsst mitfahren! Jetzt lernt ihr mal meine Heimat kennen!“ Dann sind wir über Guben, über die polnische Grenze nach Waldenburg gefahren, wo ich gelebt habe, und ins Riesengebirge – damit meine Kinder- und Enkelkinder wissen, wo der Großvater eigentlich herkommt, was seine Heimat gewesen ist. Ich war erstaunt, dass die Volksschule, in die ich als Sechsjähriger eingeschult wurde, noch existierte – und sogar das Haus, in dem ich mit meinen Eltern gelebt habe, noch genauso dastand und nicht verändert war, wie vor 50 Jahren. Das war für mich sehr beeindruckend.