Flucht von Weimar/DDR » Ungarn » Österreich » Deutschland

„Man geht drauf zu und weiß: Das kann scheitern, und ich bezahle es vielleicht mit dem Leben.“

Seit ich denken kann, war der Fluchtgedanke immer da. Ich wollte in diesem Land nicht beerdigt werden. Ich habe vermisst, ein eigenständiges Leben zu führen, und fühlte mich total eingeschränkt. Daraufhin wollte ich etwas verändern, aber es ging nicht, weil das System es nicht zuließ. Ich wollte mich aufmachen, eigenständig arbeiten, darüber natürlich auch einen gewissen Wohlstand schaffen und auf dem Weg des Erfolgs wachsen. Diese Möglichkeiten gab es nicht. Da ich das System nicht ändern konnte, musste ich weg.

Ein Freund von mir, mit dem ich zusammen arbeite, sprach mich an, ob ich mit ihm im Mai 1989 nach Ungarn fahren wolle. Das habe ich irgendwie verpasst, und er kam aus Ungarn nicht zurück. Er rief mich irgendwann bei der Arbeit an: „Ich sitze hier in Berlin in einer Pizzeria!“ Da war ich wie vor den Kopf geschlagen, weil das damals niemand erwartet hat. Ich setzte mich damit auseinander. Im Juli fuhr ich dann selbst nach Budapest. Erst einmal musste ich einen Antrag stellen, dass ich Urlaub bekomme – und wo ich hinfahren wollte. Dann musste der Betrieb diesen Urlaub über den Kaderleiter genehmigen lassen. Damit es nicht zu auffällig war, sagte ich, dass ich nach Bulgarien fahren wolle, und wartete auf die Genehmigung des Urlaubes und das Visum. Am ersten Tag meines eingereichten Urlaubs bestellten sie mich um 10 Uhr ins Büro. Mein Direktor war ein entspannter Typ, ein großartiger Mensch. Er schob mir die Unterlagen rüber, guckte mich an und sagte: „Wir wissen beide, dass du dort nicht ankommst. Viel Glück!“ Er wusste, dass ich gehe.

Eine Flucht war ja kein Gedanke, der von heute auf morgen erwachte, und es war auch kein Gedanke, der scheitern durfte, denn den hätte man mit dem Leben bezahlt. Wenn man nur einen Versuch hat wie diesen bei der Flucht damals, dann muss alles stimmig sein.

Christian Pelikan
Fahrrad

Ich musste mich vorbereiten, ich musste akribisch recherchieren, und dann musste ich meinen Weg finden. Wenn man irgendwo an einen Punkt fährt, wo man nur den Horizont sieht und über diesen Horizont hinauswill, dann weiß man nicht, was einen dahinter erwartet. Und dann ist da die Barriere, die man überwinden muss, das ist ein ganz komisches Gefühl. Man geht drauf zu und weiß: Das kann scheitern, und ich bezahle es vielleicht mit dem Leben.

Um eine Flucht zu ermöglichen, braucht man ja mehrere Sachen. Zum einen das Auto, meinen Lada, um an den Fluchtpunkt zu kommen. Das Rennrad, denn wenn ich mit dem Auto zu nahe an die Grenze gekommen wäre, wäre es ja ersichtlich gewesen, dass das nicht normal ist, also musste man mit dem Fahrrad weiter. Und dann, für den elektrischen Zaun, einen Bolzenschneider mit Asbestgriffen. Bereits kurz vor der ersten Grenze von der DDR nach Tschechien ist mir dann allerdings eingefallen, dass diese Gegenstände im Auto ja darauf hinweisen würden, dass ich irgendwas … da musste ich mir ganz schnell erst mal eine Geschichte ausdenken. Es wurde aber zum Glück nicht darauf eingegangen.

„Jetzt 60 Sekunden warten und dann Vollsprint in diese Richtung!

Ich musste das Auto in Ungarn irgendwo abstellen, damit es nicht gleich jemand sah, und dann ging es über die Felder. Ich bin fast keinen Meter aufrecht gelaufen, sondern nur gerobbt. Den ersten Zaun habe ich nicht trennen müssen, weil dort gerade Zaunarbeiten waren. Dort bin ich aufrecht gegangen. Das war mein großer Fehler, denn die sind Patrouille gefahren. Ich habe sie zum Glück eher gesehen, als sie mich. Verstecken wäre Blödsinn gewesen, weil das Gelände zwischen den zwei Grenzabschnitten gepflügt war, und ihr Hund hätte mich ja auch irgendwann gerochen. „Dann bleibst du einfach stehen, machst auf blöd und sagst, du hättest dich von Österreich her verlaufen.“
Sie kamen dann auch und forderten mich auf, mich auszuweisen. Die beiden waren mein Alter, etwa 19 Jahre.
„Papiere habe ich nicht dabei, ich bin einfach nur wandern.“
Sie verstanden mich nicht. Ich probierte es auf Englisch, aber das klappte auch nicht. Russisch habe ich nicht angefangen, da hätte ich mich ja verraten. Wir kamen irgendwie nicht weiter. Dann ging einer von beiden mit seinem Funkgerät weg – da dachte ich, es ist aus. Der ruft jetzt jemanden an. Doch dann gab mir der andere zu verstehen: „Jetzt 60 Sekunden warten –und dann Vollsprint in diese Richtung!“ Inmitten von wildem Hopfen und Dornen kam ich an, und dort war dann der eigentliche Zaun. Die beiden Grenzposten fuhren mit dem Jeep weg.

Ich bin dann über diesen alten Zaun geklettert, auf der anderen Seite in die Weinfelder und zum nächsten Dorf. Dort ging ich zur Gendarmerie und sagte, dass ich geflüchtet sei. Man gab mir ein Bett, eine Fahrkarte nach Wien und noch ein bisschen Handgeld, damit konnte ich mir ein Wasser kaufen. Schließlich bin ich in Gießen gelandet.

Die Erfahrung aus meiner Flucht ist, dass jeder Mensch eine Chance verdient hat – und für uns als Gesellschaft auch eine Riesenchance ist.

So war die Flucht mit Erfolg gekrönt. Doch wenn man dann wieder in sein Leben eintauchen will, steht man mit nichts da. Man kann erst einmal überhaupt nichts machen, weil vom eigenen Leben eigentlich nichts mehr da ist.

Natürlich wollen sich alle Menschen, wenn sie sich auf die Flucht machen, verbessern – es wird niemand eine Flucht ergreifen, um sein Leben zu verschlechtern. Menschen machen sich auf, um ihr Leben zu verändern, und bereichern letzten Endes auch Gesellschaften. In der großen Welle der DDR-Flucht waren es viele junge Menschen, die sich da aufgemacht haben, die selbstständig denken konnten, die top ausgebildet waren – das ist ja eine Bereicherung auch für die Gesellschaft hier gewesen.